Kreidler-Florett fuhr Weltrekord!Herkunft: Das Motorrad Nr 24, 1964
Autor: BEN
Fotos: BEN
10 km mit stehendem Start = 149,74 km/h <------> 1 Stunde = 159,11 km/h
100 km mit stehendem Start = 158,67 km/h <-----> 6 Stunden = 139,49 km/h
Alle vier erzielten Bestleistungen sind neue Weltrekorde sowohl für die 50 ccm- wie die 75 ccm-Klasse. Nachdem die Weltmeisterschaft der Fünfziger-Klasse praktisch bereits in Finnland entschieden war (zumal kurz darauf bekannt wurde, daß der Lauf in Argentinien nicht stattfinden würde), entschloß man sich im Hause Kreidler, in diesem Jahr am letzten Weltmeisterschaftslauf in Japan, der ja ohnedies keine positive Änderung der Plazierung mehr bringen konnte, nicht teilzunehmen.
Und da man bei Kreidler um zugkräftige Werbegags nie verlegen ist, dachte man sich auch als Ersatz dafür wieder eine feine Sache: man fuhr mal eben schnell acht neue Weltrekorde in Montlhéry bei Paris; und zwar am 1. November - dem gleichen Tag also, an dem auf dem Suzuka-Kurs der Japan Grand Prix gefahren wurde!
Dabei wäre das zunächst fast schief gegangen, denn als man soweit war und die Monza-Bahn, die ja für Rekordversuche immer noch die ideale Strecke ist, mieten wollte, stellte sich heraus, daß das Autodrom vor den Toren Mailands zu diesem Termin bereits vermietet war. So blieb also nur noch die knapp 2,5 km (2499,88 m genau) lange Bahn in Montlhéry (ca. 50 km südlich Paris) als Ausweichlösung. Sehr glücklich war man bei Kreidler darüber gerade nicht, denn man mußte bei den ersten Fahrversuchen betrübt feststellen, daß sich der Hochgeschwindigkeitskurs von Montlhéry in einem geradezu verwahrlosten Zustand befand, so daß es hier eher ein Springen als ein Fahren ist; die Fahrer haben es häufig schwer, die Maschine auf geradem Kurs zu halten. Ganz ohne Zweifel, das wußte man also von Anfang an, war man auf dieser Bahn stark benachteiligt - man würde hier einiges verschenken.
Wenn er nicht gerade fuhr, Übernachte er in Vertretung des Rennnleiters
die Stoppuhren: Anscheidt mit der Spezialplatte, deren zwei Hebel die
gemeinsame gleichzeitige Betätigung mehrerer Uhren ermöglichen. Aber als Jochen Block, unter dessen Regie der ganze Rekordversuch stand, mit seinen Mannen am Freitag die ersten Fahrversuche startete, waren sie dann doch alle ganz zuversichtlich. Besonders schon deshalb, weil der neue Motor, der (wir berichteten darüber) erstmalig auf der Solitude eingesetzt wurde und der in der Zwischenzeit eine weitere PS-Kur hinter sich brachte, bei den ersten Fahrproben so außerordentlich gute Ergebnisse lieferte, daß Hans- Georg Anscheidt mit ihm um ein Beträchtliches schneller sein konnte als mit dem besten Vorgänger, dem Viergangmotor mit dem Dreifach-Vorgelege. Der neue Rennmotor besitzt. bekanntlich ein Sechsganggetriebe mit einem Doppel-Vorgelege.
Obwohl der neue Motor ursprünglich gar nicht für die Rekordfahrten eingesetzt werden sollte, gaben diese guten Ergebnisse den Ausschlag dafür, daß der Rekord über 10 km mit stehendem Start sowie der Rekord über 100 km und der Stundenrekord mit dem neuen Motor gefahren werden sollten. Leider stürzte am Freitag bei den ersten Trainingsfahrten Rudolf Kunz, der (außer natürlich H.-G. Anscheidt) zusammen mit dem Holländer van Dongen als Fahrer für die sechs Stunden vorgesehen war, so unglüdrlich, daß er ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Obwohl es anfangs sehr schlimm aussah, hatte er aber glücklicherweise nur eine leichte Gehirnerschütterung und einen Schlüsselbeinbruch erlitten: Nur - als Fahrer schied er nun natürlich aus. Für ihn sprang der französische Juniorenmeister Claude Vigreux ein, der nach den ersten Proberunden auch gleich erstaunlich gut mit dein Rennflorett zurechtkam.
Wie oben schon gesagt, hatte man keine besonders präparierte Rekordmaschine nach Montlhéry gebracht, sondern bis auf eine kleine Heckverkleidung entsprachen beide Maschinen (die mit dem schnellen neuen Motor und die mit dem Vorgängermotor) genau dem Rennflorett, wie es zur diesjährigen Weltmeisterschaft gefahren wurde. Aus diesem Grund besaßen die Maschinen auch weder besonders für diesen Zweck vorbereitete Rekordreifen, noch wurden die Motoren mit einem speziellen Kraftstoff gefahren. Vielmehr fuhr man auch hier in Montlékry, wie bei den WM-Läufen, mit normalem BP-Benzin, das beim neuen Motor (der ja die zusätzliche Pumpenschmierung besitzt) im Mischungsverhältnis von 1:50 und beim älteren von 1:20 gefahren wurde.
Die Spulenzündung des Rennmotors wird allein durch eine Batterie gespeist,
deren Kapazität natürlich zu gering ist, um sechs Stunden mit Sicherheit
durchzustehen; deshalb wurde noch je zwei Stunden ein Batterieaustausch
vorgenommen, um ja nichts zu riskieren (in den Dingern steckt ja keiner drin!). Aber genauso, wie die gesamte Maschine in allem der Rennausführung entsprach, waren auch die Tanks nicht größer dimensioniert, und deshalb war es dann auch Jochen Blocks große Sorge, ob der Treibstoff für eine Stunde ausreichen würde. Er reichte - allerdings war nicht mehr viel drin, als Anscheidt die Rekordstunde hinter sich hatte!
Vorgesehen war zunächst der Rekord über 10 km mit stehendem Start, bisher gehalten von H. P. Müller der ihn 1956 mit der NSU auf 134 km/h raufschraubte. Dann der Rekord über 100 km, der ebenfalls seit dem Jahr 1956 allerdings nicht von H. P. Müller, sondern von Passini auf Demm mit 142 km/h gehalten wurde. Weiterhin sollte der Rekord über eine Stunde, den ebenfalls Passini auf der Demm (und zwar mit 143 km/h) noch aus dem gleichen Jahr besaß, ausgelöscht werden. Und wenn alles gut ging, dann wollte man noch den Sechsstunden-Rekord in Angriff nehmen, den Marchesani und Zubani im vergangenen Jahr in Monza mit der Garelli auf 122,311 km/h gesetzt hatten.
Diese beiden Bilder zeigen nochmal den unseren Lesern schon vorgestellten neuen
Kreidler-Rennmotor 1964 mit dem Doppeldrehschieber, dem Sechsganggetriebe und
dem zweistufigen Vorgelege sowie der Pumpenschmierung. Bei 40 mm Bohrung und
39,5 mm Hub bringt dieser 50 ccm-Motor derzeit eine Literleistung von etwa 250 PS. Daß die Kreidler-Rennmotoren zu den zuverlässigsten in der 50er Klasse überhaupt gehören, ist bekannt. Daß aber die Kreidler-Leute zu ihren Motoren ein derartiges Vertrauen hatten, um mit eben diesen Rennmotoren einen Dauerrekord über sechs Stunden in Angriff zu nehmen, das setzte uns, als wir davon zum erstenmal horten, doch etwas in Erstaunen. Nun, sie mußten's ja wissen. Allerdings wußten sie es, wie mir Rennleiter Block nach gefahrenem Rekord sagte, eigentlich gar nicht so genau - aber ihr Vertrauen wurde nicht enttäuscht.
Die 10 km, die 100 km und der Stundenrekord sollten am Samstag in Angriff genommen, der Sechsstunden-Rekord, wenn alles gut ginge, dann am Sonntag gefahren werden. Zunächst sollte um 9 Uhr in der Frühe begonnen werden. Doch da die Außentemperaturen über Nacht sehr stark gesunken waren, entschloß man sich, mit dem Start noch etwas zu warten. Etwa um 11.00 Uhr war ,es dann soweit. H.-G. Anscheidt startete, um den Rekord über 10 km in Angriff zu nehmen. Und nach fünf Runden hatte er ihn dann auch auf 149,79 km/h verbessert. Seine schnellste Runde lag bei 160 km/h. Unmittelbar daran anschließend: nachdem die Maschine wieder voll aufgetankt war, nahm er sich den Rekord über eine Stunde vor. Und in der vierten Runde legte er gleich mit 558/10 Sekunden eine Rekordrunde hin, einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 161,3 km/h entsprechend. Nachdem diesmal der Start besser klappte als beim erstenmal, verbessert er den Rekord über 10 km auf 151,00 km/h. Der Motor läuft wie ein Uhrwerk, sauber zieht Anscheidt seine Runden, und nach über 40 Runden löscht er dem alten 100 km-Rekord das Licht aus. Er erreicht eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 158,67 km/h. Alles geht gut. Hoffentlich reiht der Sprit. Aber dann, nach 64 Runden, ist es überstanden. Hans-Georg Anscheidt hat die eine Stunde hinter sich gebracht. Er erreichte den fabelhaften Schnitt von 159,108 km/h. Drei neue Weltrekorde in der 50er Klasse sind damit im Besitz von Kreidler. Doch da diese Rekorde die bisherigen der Klasse bis 75 ccm gleichfalls übertreffen, sind es bereits sechs Rekorde, die in Anscheidts bzw. der Marke Kreidler Besitz übergegangen sind. 159 km/h aus 50 ccm – und das über eine Stunde! Wer hätte das vor Jahren für möglich gehalten?
Und wenn man schon allein vor all denen den Hut ziehen muß, die diesen Motor schufen
- daß er dabei auch noch die in Montlhéry gezeigte Standfestigkeit aufweist, ist mehr als erstaunlich. Natürlich herrscht in diesem Augenblick in Montlhéry ganz große Freude über diese Leistung bei allen Kreidler-Leuten, denn man ist nicht nur im Besitz dreier neuer Rekorde, sondern, was für die Zukunft mindestens ebenso wichtig ist und was den Männern in der Rennabteilung bestimmt wieder verstärkten Auftrieb gibt - der neue Motor hat seine Leistungsfähigkeit ebenso wie seine Standfestigkeit deutlich unter Beweis gestellt. Pünktlich 9.00 Uhr sollte, nachdem die Probefahrten mit Vigreux am Samstag nachmittag gut verlaufen waren und man ihn (das ist Vorschrift) telefonisch in Genf durch Major Goode von der FIM als Ersatzfahrer genehmigt bekommen hatte, am Sonntag, dem 1. November, der Rekord über sechs Stunden in Angriff genommen werden. Doch zu großer Kälte (die Temperatur war auf sechs Grad plus herabgesunken) hatte sich noch dichter Nebel gesellt, der einen Start zu dieser Zeit unmöglich machte. Ja - es sah beinahe so aus, als müßte der Rekordversuch ganz verschoben werden. Denn bis 10.00 Uhr hatte sich der Nebel eher verdichtet als gelichtet. Aber dann, gegen 10.30 Uhr, spitzte die Sonne bereits zaghaft durch die starke Nebeldecke, und obwohl die starke Kälte nicht wesentlich nachgelassen hatte (Außentemperatur 7 Grad!) entschloß man sich, Cees van Dongen, der als Erster starten sollte, einige Proberunden absolvieren zu lassen. Von ihnen kehrte er zuversichtlich zurück und teilte mit, er würde starten. So war es dann 10.55 Uhr endlich soweit: Van Dongen ging auf die Reise über die erste Stunde.
Diese beiden Bilder zeigen recht deutlich, wie viele "Zaungäden" bei den Stops sich um
die Rekordmaschine versammelten und so oder so die Arbeit der Monteure behinderten
- die Zeitverluste drückten natürlich kräftig auf den erzielten Durchschnitt. Und zunächst ging auch alles gut. Immerhin fuhr er in den ersten Runden um die 59 Sekunden, eine sehr gute Zeit also, wenn man bedenkt, daß er ja auf der nicht ganz so schnellen Maschine saß, denn, wie eingangs erwähnt, wurde der Sechsstunden-Rekord mit dem älteren Motor, also mit dem mit Vierganggetriebe und Dreifach-Vorgelege, in Angriff genommen. Immerhin fährt er die ersten 100 km mit 149,37 km/h! Allerdings wird er dann gegen Ende der ersten Stunde wesentlich langsamer, seine Rundenzeiten liegen jetzt bei 65 Sekunden. Und da, kurz vor Schluß, jagt er uns allen einen großen Schrecken ein, als er plötzlich kurz nach dem Ziel ins Gras rausfährt. Dabei verschaltet er sich, der Motor heult auf - aber van Dongen bringt die Maschine wieder auf die Bahn, und der Motor scheint den Zwischenfall nicht weiter übelgenommen zu haben. Er fahrt die Stunde zu Ende. Doch als er zum Fahrerwechsel und Tanken stoppt, muß er fast von der Maschine gehoben werden, so hat ihn die Kälte fertiggemacht. Also war das Rausfahren wohl eine reine Erschöpfungserscheinung gewesen. Claude Vigreux übernimmt die Maschine, nachdem neu aufgetankt wurde, für die nächste Stunde. Der Wechsel dauerte 3 Minuten und 10 Sekunden.
Ob es nun ein bißchen zu eng zuging in der Verkleidung oder ob es einfach die
geringere Praxis war - jedenfalls verschenkte von Dongen (oben) mit dieser Position
natürlich einiges von der möglichen Höchstgeschwindigkeit gegenüber Anscheidt (unten). Zwar verschaltet sich Vigreux gleich nach dem Start, aber dann kommt er doch ganz gut zurecht. Er fahrt die nächste Stunde ohne Zwischenfall. Nun, nach zwei Stunden, wird während des Fahrerwechsels und des Tankens aus Sicherheitsgründen die Batterie ausgetauscht. Leider dauerte der Aufenthalt mit drei Minuten recht lange.
Hans-Georg Anscheidt sitzt jetzt auf der Maschine. Er fahrt sofort Rundenzeiten von 57 und 58 Sekunden. Es ist eben unglaublich, wie er auf diese Maschine, man kann fast sagen “zurechtgeschneidert" ist, und vor allem, wie er sie kennt. Dabei dreht der Motor Runde für Runde wie ein Uhrwerk, so als sei das alles gar nichts! Nun übernimmt van Dongen wieder. Der Tankstopp dauert diesmal 2.514/10 Minuten. Schade, daß man bei diesen Aufenthalten soviel Zeit verliert. Aber es ist auch unverständlich, wieviele Leute, die gar nichts mit dem Rekord zu tun haben, da rumstehen und die Monteure in ihrer Arbeit behindern. Wenn wir da an den Garelli-Rekord zurückdenken, bei dem man überhaupt nur mit Spezialausweisen auf die Bahn durfte und das Fotografieren beim Tankstopp nur aus weiter Entfernung erfolgen konnte, weil immer einer da war, der dafür sorgte, daß nur die eingeteilten Monteure an die Maschine durften und dadurch unbehindert arbeiten konnten - aber in Frankreich geht das eben wohl etwas großzügiger zu! Schade für Kreidler - der Rekord hätte um einiges höher ausfallen können.
Beinahe gespenstisch kamen die Fahrer aus dem Nebel heraus
- wie hier der französische Fahrer beim Sechsstunden-Rekord, Vigreux. Als Nächster übernimmt wieder Vigreux. 3.15 6/10 Minuten dauert der Stopp diesmal. Und leider hat man feststellen müssen, daß beim nächsten Mal auch noch der Hinterradreifen gewechselt werden muß. Als es dann soweit ist und van Dongen die Maschine für die letzte Stunde übernehmen soll, da ist das vorbereitete Hinterrad in der Hitze des Gefechtes mit einem 35er statt mit einer 33er Kettenkranz versehen. Durch diesen ärgerlichen Fehler dauert der Aufenthalt diesmal 5.45.4 Minuten. Cees van Dongen aber fährt die sechs Stunden zu Ende, obwohl es zwei Runden vor Schluß fast so aussieht, als würde er noch alles durcheinanderbringen, denn er gibt durch Winken Zeichen, daß er nicht mehr kann. Aber schließlich fahrt er doch noch bis zum Ende. Und nach genau sechs Stunden, um 16.55 Uhr, hat das Kreidler-Renn-Florett 836,912 km zurückgelegt. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 139,49 km/h.
Die in Monthléry an den Rekorderfolgen beteiligten Kreidler-Männer: (von links)
Presse- und Werbeleiter Schmidt, die Mechaniker Geiling, Rathke und Noller,
vor dem letzteren van Dongen, daneben Anscheidt vor Rennleiter Block, weiter Vigreux
und Ihle, der "Blechpatscher". Sechs Stunden Dauervollgas bei ca. 250 PS Literleistung! Kann man mit einer Rennmaschine von 50 ccm Hubraum einen besseren Beweis für ihre Schnelligkeit und vor allem ihre Zuverlässigkeit erbringen? Man kann jedenfalls den Kreidler- Männern allesamt zu diesem Erfolg nur Glückwunsch und Anerkennung aussprechen.